Ausgemusterte Bauten und Infrastrukturen ohne Funktion könnten zum Rettungsanker für die Zukunft werden. Stefan Rettich und Sabine Tastel zeigen in „Die obsolete Stadt. Wege in die Zirkularität“ bei Jovis, wie das funktionieren kann.
Text: Isabella Marboe, genau!
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Stefan Rettich, Sabine Tastel, 2021
„Obsolet ist ein Gegenstand dann, wenn er nicht mehr gebräuchlich oder als überflüssig wahrgenommen wird“, heißt es im Buch. Für Städte ist diese Beobachtung umso brisanter: Seit 2007 lebt erstmals mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten, Tendenz steigend. Doch es gibt viele Bauten, die durch den Klimawandel, gesellschaftliche und technologische Veränderungen aus der Nutzung gefallen sind. Nutzlos sind sie trotzdem nicht, sondern sie bergen wertvolle Ressourcen: ihren Standort, ihre Materialien, das gebundene CO₂ und ihr kulturelles Wissen. Der leicht unregelmäßige goldene Kreis auf dem Buchcover symbolisiert diese Potenziale und die noch unsichere, aber vielversprechende Zukunft der Objekte.
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Nils Soya, 2023
Urbaner Leerstand
Schon die einleitenden, in Gold getauchten Fotografien illustrieren die Dimensionen des Themas: riesige Möbel- und Baumärkte an Stadträndern, deren Obsoleszenz sich durch den Online-Handel bereits abzeichnet. Leerstände in Einkaufsstraßen, sterbende Kaufhäuser – unlängst prominent sichtbar geworden.
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Max Gaußmann, Fachgebiet Städtebau, Universität Kassel
Spekulation und Bodenpreise
Das Autorenduo betont im Vorwort: „Dieses Buch ist kein Anschlag auf die Stadt als soziales, politisches und kulturelles Projekt.“ Vielmehr versteht es sich als Gegenstrategie zu verantwortungsloser Verbauung und Bodenspekulation, die Städte unerschwinglich und Wohnraum knapp macht. Immobilienpreise haben sich in Deutschland vom 15- bis 20-Fachen der Nettokaltmiete auf das über 40-Fache gesteigert. Das Beispiel eines ehemaligen Tanklagergrundstücks in Berlin zeigt, wie drastische Bodenwertsteigerungen Projekte verhindern und Spekulation fördern.
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Nils Soya, 2023
Stadttransformation
Rettich und Tastel argumentieren: Die Stadt von morgen ist bereits vorhanden. Es braucht kein weiteres Land, sondern die intelligente Nutzung des Obsoleten – im Kreislauf. Historisch gab es immer wieder Phasen, in denen unbrauchbar gewordene Strukturen großflächige Stadttransformation ermöglichten, etwa die Schleifung von Festungsanlagen im 19. Jahrhundert, die Wien und Hamburg enorme Entwicklungsspielräume eröffnete. Die Autor*innen identifizieren mehrere „Megatrends“ als Treiber dieser Transformation: Säkularisierung und Individualisierung, Mobilitätswende, Digitalisierung – Entwicklungen, die Handel, Arbeit und Kultur tiefgreifend verändern. Kirchen und Pfarrgebäude stehen zunehmend leer, veraltete Industrien hinterlassen riesige Areale, Home-Office macht Büroflächen überflüssig, Streamingdienste verdrängen Kinos.
Freie und Hansestadt Hamburg, Landesbetrieb Geoinformation und Vermessung
Urbane Minen
Diese Bestände lediglich als Rohstofflager zu betrachten und abzureißen, greift zu kurz. Abriss und Neubau würden das zentrale Problem, den Kampf um knappen Boden, nur verschärfen. Zudem enthalten Bestandsbauten enorme Mengen grauer Energie und sind damit ökologisch klar im Vorteil gegenüber Neubauten.
Beispielhafte Typologien
Das Buch extrahiert 16 Typologien – von Ladenlokalen, Einkaufszentren, Messen und Kinos über Industrieareale, Büros, Tankstellen und Parkhäuser bis zu Flughäfen, Friedhöfen und Kirchen. Sie lassen sich als Familien verstehen, deren Potenziale sich durch geschickte Kombination und Umnutzung entfalten. Wie das im Detail funktionieren kann, wird anhand zahlreicher Beispiele und Analysen erläutert.
Rettich und Tastel betrachten historische, rechtliche und planerische Aspekte gleichermaßen. Sie zeigen bestehende Instrumente wie die sanfte Stadterneuerung und untersuchen Hamburg als Modellfall für Transformation. Ihr Buch überzeugt durch gründliche Recherche und eine klare Argumentation: Die freiwerdenden Flächen der obsoleten Stadt können – ganzheitlich und systemisch verstanden – zu entscheidenden Faktoren auf dem Weg zur Kreislaufwirtschaft werden. Ein lesenswertes Werk für alle, die sich für Stadtentwicklung, Ressourcenbewusstsein und nachhaltige Transformation interessieren.
Stefan Rettich, Sabine Tastel, „Die obsolete Stadt. Wege in die Zirkularität“, 408 Seiten, 150 farb. Abbildungen, Deutsch, 14 x 21 cm, Jovis, Berlin 2025, ISBN 978-3-98612-034-4
Dieser Beitrag von Isabella Marboe erschien erstmals bei unserem Medienpartner genau!
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