Der neue Band aus der Städte-Reihe von Edition Detail konzentriert sich auf Amsterdam und porträtiert die lebendige Architekturzene der holländischen Metropole. Den Fokus legten die Herausgeberinnen Anneke Bokern und Sandra Hofmeister auf Wohnungsbauten. Wir veröffentlichen das Vorwort des Buchs.
Delugan Meissl Associated Architects Eye Filmmuseum, photo: Corinne de Korver
Stadt am Wasser
Amsterdam ist eine Handelsmetropole. Seit vielen Jahrhunderten zieht die Stadt Kaufleute aus aller Welt an. Im 17. Jahrhundert war Amsterdam die reichste Stadt Europas, heute ist sie einer der wichtigsten Finanzstandorte. Die größte Börse in der Europäischen Union befindet sich seit dem Brexit in Amsterdam. Kein Wunder also, dass die Grachtenstadt ohne Unterlass wächst. Bis 2050 sagen die Prognosen etwa 20 Prozent mehr Einwohner als im Jahr 2020 voraus – insgesamt etwa 1,6 Millionen. Doch der Bevölkerungsboom bringt auch Herausforderungen mit sich. Die Stadt muss dringend neuen Wohnraum schaffen, kann sich aber in keiner Himmelsrichtung mehr ausdehnen. Dabei spielen auch Erwägungen zum Umweltschutz und Klimawandel eine Rolle. Zwar ist Amsterdam durch Schleusen und Deiche vor dem Meer geschützt – die letzte Überflutung liegt über hundert Jahre zurück – aber der ansteigende Meeresspiegel und zunehmende Niederschlagsmengen erfordern ein Umdenken in der Stadtplanung. Wo sollte man noch bauen und wo besser nicht? Flut, Feuer und Pest hat Amsterdam bereits mehrfach überwunden – die drei X auf schwarzem Grund im Stadtwappen weisen einer Legende zufolge auf diesen Umstand hin. 2025 wird Amsterdam 750 Jahre alt – das Jubiläum nimmt die Stadt zum Anlass, um ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu würdigen. Schon mehrfach hat sie sich im Lauf der Jahrhunderte neu erfunden. Bekanntester Stadtteil ist dennoch bis heute die Altstadt mit ihrem Grachtenring und den historischen Kaufmannshäusern. Die meisten von ihnen wurden über die Jahrhunderte hinweg mehrfach umgenutzt. Transformation und Umwidmung sind Teil des gelebten Alltags. Gleichzeitig wurden durch gezielte Stadterweiterungen stets neue Wohnviertel erschlossen, die sich zunächst halbkreisförmig wie Jahresringe um den Grachtenring legten. Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden nach Entwurf von Hendrik Petrus Berlage neue Wohngebiete im Süden, nach dem zweiten Weltkrieg kamen die Stadterweiterungen außerhalb des heutigen Autobahnrings nach Plänen von Cornelis van Eesteren hinzu.
Studio Bremmer, Fedlev Hootsmans Architectuurbureau, Gerrit Rietveld Academie photo: Franziska Mueller Schmidt
Der begrenzte Raum im Umland, das teils dicht besiedelt und teils Naturschutzgebiet ist, führte in den 1990er-Jahren zu einer Wende – statt neu zu bauen wird nun nachverdichtet. Zunächst wurden die Uferzonen entlang des IJ wiederentdeckt, später erfolgte der Sprung über das IJ in das Stadtviertel Noord. Viel internationale Aufmerksamkeit erhielten die hochverdichteten Reihenhäuser auf den östlichen Hafeninseln, aber auch der Wohnblock Silodam von MVRDV – ein Paradebeispiel der Architektur der SuperDutch-Generation. Später kamen ikonenhafte Gebäude wie die Erweiterung des Stedelijk Museums von Benthem Crouwel Architecten, das Sluishuis von Barcode Architects und der Bjarke Ingels Group oder der Hochhauskomplex Valley von MVRDV hinzu. Von solch großen Gesten distanziert sich die heutige Generation von Architektinnen und Architekten. Stattdessen sind undogmatische, partizipative Ansätze gefragt und die Dauerhaftigkeit steht hoch im Kurs. Dass die Konzepte dabei nicht altmodisch ausfallen, obwohl sie sich gelegentlich an den expressionistischen Lösungen der Amsterdamer Schule orientieren, versteht sich in der experimentierfreudigen und pragmatischen Szene von selbst. Auch Transformationsprojekte werden ohne Vorbehalte angegangen – Amsterdam ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild in Europa. Das gilt nicht nur für den Wohnungsbau der Stadt, sondern auch für die Verkehrsplanung. Waren früher die Grachten entscheidende Verkehrswege, so haben heute die Radwege ihre Rolle übernommen. Der Fahrradverkehr wird gezielt gefördert – unter anderem mit großen Garagen wie am Hauptbahnhof. Die Mobilitätswende fand in Amsterdam bereits in den 1980er- Jahren statt und ist heute Vorbild für viele Städte in Europa und darüber hinaus.
Meesvisser, Timber Home on Zeeburgereiland, photo: Lard Buurman
Flexibilität und Innovation waren schon immer Kennzeichen für die Entwicklung Amsterdams. Dynamik, Internationalität und Weltoffenheit sind über die Jahrhunderte zu festen Teilen einer Baukultur geworden, die mit dem Wasser lebt und immer im Fluss ist. Dieses Buch zeichnet ein lebendiges Porträt der aktuellen Architekturszene Amsterdams, es zeigt markante architektonische Meilensteine und eher unscheinbare Entdeckungen, die die Lebensräume in der Stadt nachhaltig verbessern. Den besonderen Fokus legen wir als Herausgeberinnen auf die Frage des Wohnens, weil sie entscheidend für das Leben in Amsterdam und zurzeit ein heißes Eisen ist. Große Wohnungsbauprojekte wie die Hofbebauung Spaarndammerhart oder der Wohnblock Jonas im neuen Inselstadtteil IJburg sind ebenso dokumentiert wie Sanierungen von Bestandsbauten, etwa das ehemalige Bürohochhaus De Voortuinen. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf experimentellen Projekten, darunter die schwimmende Wohnsiedlung Schoonschip und die Umnutzung von Brückenwärterhäuschen zu Hotelsuiten. Interviews mit den Protagonistinnen vor Ort geben zusätzliche Einblicke in die Werkstatt der Architektur in einer der spannendsten Städte Europas. Und mit Essays über kritische Themen wie der Frage nach dem Tourismus oder über Tradition und Zukunft der Fahrradmobilität runden wir das Stadtporträt in diesem
Buch ab.
Februar 2025
Anneke Bokern, Sandra Hofmeister
Dieser Text ist aus folgender Neuerscheinung (S. 9-11):
Anneke Bokern, Sandra Hofmeister (Hgg.), Amsterdam. Urbane Architektur und Lebensräume, 25x19,5 cm, Softcover, 312 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Edition Detail, München 2025, ISBN: 978-3-95553-652-7