Antikenimitation als Gegenwartsphänomen: Lux Merx hat Kairos Stuckwerkstätten in beeindruckenden Fotos dokumentiert. Seine Aufnahmen in „Cairo’s Plaster Casts“ (Ruby Press) sind mit den Essays verschiedener Autor:innen zu einem großen kulturtheoretischen, soziologischen und historischen Tableau ergänzt.
Text: Sandra Hofmeister
Photo: Luc Merx
Gekröpfte Gesimse und Eierstabfriese, prachtvoll verzierte Kapitelle und kannelierte Pilaster, übereinandergestapelt und nebeneinander aufgetürmt, ergänzt mit barocken Balustraden und Voluten aller Art. Die meist menschenleeren Fotos der Stuckwerkstätten in Kairo von Luc Merx enthüllen ein wildes Sammelsurium aus Ornamenten im Überfluss. Luc Merx nennt sie zu Recht einen „räumlichen Katalog“. Er entdeckte die Gipsereien bei seinen Stadtspaziergängen im Sommer 2019. Das Stuckhandwerk in Ägypten ist eine Tradition, die in das 19. Jahrhundert und in die Zeit der Kolonialismus zurückgeht und sich später verselbständigte. „Ich kam mir vor, als ob man in das Rom des 18. Jahrhundert von Giovanni Battista Piranesi eingetaucht wäre“, so Luc Merx. Orte, Menschen, Details hielt er mit seiner Kamera fest. Zu den Handwerksbetrieben in Al Fusat kamen die Beobachtungen zum Stucco Grafitti hinzu, – Street Art mit Stuckornamenten – außerdem die Gipsereien der City of the Dead der ägyptischen Metropole. Viele der Werkstätten in Kairo, in denen Stuckornamente und jede Form von Wandapplikationen für das neue bürgerliche ägyptische Domizil hergestellt wurden, gibt es heute nicht mehr. Im Zuge der rasanten Entwicklung der Metropole in den letzten Jahren wurden sie für neue Stadtviertel zerstört, die Handwerksfamilien zwangsumgesiedelt und entwurzelt. Deshalb sind viele Orte in den Fotoessays verloren. Ihre Dokumentation bewahrt die Erinnerung an sie.
Photo: Luc Merx
Wundertüte mit Überraschungen
Matthias Castorph geht in seinem persönlich gehaltenen Essay der Faszination des Durcheinanders in Luc Merx Aufnahmen auf den Grund. Die Aufsätze des Buchs sind zwischen fünf Fotostrecken gestreut und widmen sich einer bunten Themenauswahl, die beim Phänomen der Gipswerkstätten Kairos naheliegt. Ihren Überblick zur Entwicklung von Fustat, dem Stadtviertel im alten Kairo, ergänzen Holger Gladys und Dalia Wahdan mit Einblicken in die gesellschaftliche Situation und das Schicksal der Stuckhandwerksfamilien. Andere Aufsätze führen zur Typologie der Empfangshalle in Kairos Architektur, zur Idee der Bricolage in der Antikenrezeption von ausgewählten historischen Traktaten und natürlich zu Piranesi – und zur Postmoderne in der zeitgenössischen arabischen Architektur. Thematisch ist dieses Buch eine Wundertüte voller Überraschungen. Wirkt die inhaltliche Struktur auf den ersten Blick wenig geordnet, so hat sie doch ein Vorbild, nämlich die „plaster casts“ selbst. Sie widersetzen sich der Ordnung ebenso wie der Abstraktion. Letztlich verwandeln sich in den Stuckwerkstätten Zitate der Geschichte zu einer Ansammlung an dekorativen Elementen, die Ruine immer mitgedacht.
Photo: Luc Merx
Ruinen und Zitate
Die Analogie zu Giovanni Battista Piranesi Stichen aus dem späten 18. Jahrhundert wird mehrfach thematisiert– die Antike, und besonders die ägyptische Antike, als Vorliebe im Klassizismus. Gijs Wallis de Vries geht dem heute verlorenen Cafe degli Inglesi in Rom nach, das Piranesi in ägyptisierendem Stil aus einzelnen Fragmenten komponierte. Reprise und Rekurs, indirekt und direkte Zitate: Die Semiotik kennt viele Begriffe für die kreative Kopie, die sich im Umgang mit den Stuckelementen aufdrängt. Die entscheidende Frage liegt jedoch in der Semantik, die sich aus Zeichen und Zitaten gründet. Was bedeutet es, wenn klassische Ornamentsysteme dekonstruiert und zu Collagen werden? Die Ästhetik des Kombinierens war in historischen Sammlungen von Gipsabgüssen üblich und das Sammeln der Antike eine Obsession, der beispielsweise Sir John Soane nachging. War sein Neoklassizismus noch aufgeladen mit Bedeutung, so wird die antike Referenz in der Postmoderne zum autoreferenziellen Zitat. Luc Merx selbst greift den Bezug zu Robert Venturi und Denise Scott Brown in diesem Zusammenhang auf.
Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit
Die Geschichte wird so zum Katalog aus unzähligen Motiven. Die Antike hat keinen exklusiven Stellenwert mehr, sie ist nicht einzigartig, sondern vielfach reproduzierbar. Das gilt auch für Gipsabgüssen, deren Ergebnisse in Standardkatalogen zur Verzierung von Häusern und Räumen gekauft werden können. Vor 90 Jahren veröffentlichte Walter Benjamin seinen viel Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Die Thematik, die er 1935 mit dem Aufkommen der Fotografie kritisch gegenüberstand, hat längst eine neue Dimension erreicht – sie gilt auch für Räume und ist im postkolonialen Zeitalter angekommen. Luc Merx‘ Buch liefert dazu kluge Beobachtungen, die unbedingt lesenswert sind.
„Cairo's Plaster Casts“, Luc Merx (ed.), with photographs by Luc Merx, Design: Something Fantastic, 306 pages, 168 x 240 mm, Hardcover, Ruby Press, Berlin 2025, ISBN: 978-3-944074-49-8 42