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fritz haller: totale stadt ein modell

Text: Sandra Hofmeister

Utopien haben mich schon immer fasziniert, weil sie als Gedankenspiele der Fantasie weder Grenzen noch Regeln kennen. Utopische Stadtentwürfe sind im Grunde Visionen der freien Kunst. Ob sie jemals realisiert werden und wer sie finanziert, oder gar unter welchen Bedingungen und mit welchen Bauvorschriften sie Wirklichkeit werden… all das ist unwichtig und außen vor. Utopien geben der Fantasie carte blanche. Alles ist erlaubt, das macht sie so spannend – Fata Morgana einer Zukunft, die in sehr weiter Ferne liegt.

Ausgesondert
Wie genau Fritz Hallers schönes Utopien-Buch „totale stadt ein modell“ von 1968 in mein Bücherregal kamen, weiß ich nicht mehr genau. Ein glücklicher Fund auf dem Flohmarkt? Das Buch hat ein ungewöhnliches Format – ein großes Bilderbuch im Querformat. Es ist in keinem guten Zustand, der Buchrücken löst sich auf, und wie ich festgestellt habe eine recht wertvolle Rarität trotz alledem. Im Impressum steht „walter-verlag ag olten“, ein Copyright ist nicht genannt, ansonsten nur die lapidare Angabe „gesamtherstellung in den werkstätten“ des Verlags. Damals hatten Verlage noch Werkstätten! Wikipedia klärt auf, dass dieses Verlagshaus ein „katholisch orientierter Schweizer Buch- und Zeitschriftenverlag“ war, der später vom Patmos-Verlag übernommen wurde. Neben dem Imprint sind mehrere Stempel der früheren Besitzerinnen, unter anderem der Deutschen Baukadamie und der UB/TU Berlin – allesamt mit dem Verweis „ausgesondert“.

Städte und Ordnungen
Jetzt aber zu Fritz Hallers Stadtutopie selbst, sie skizziert ein allumfassendes System für die Stadt der Zukunft mit verschiedenen Ordnungen. Die erste Ordnung ist für 32.000 Einwohner – die vierte heißt e4 und ist für 6 Millionen Einwohner samt Transportsystem und Umbau bestehender Städte. Wie kommt der Schweizer Architekt Fritz Haller, 1924 in Solothurn geboren und 2012 in Bern verstorben, überhaupt zu diesen Erwägungen?

FRitz Haller 3

Verzweiflung und Hoffung
„im jahre 2000 werden sechs milliarden menschen auf der erde leben. Im jahre 2026 sollen es nach denselben berechnungen zehn milliarden erreicht sein,“ so der Architekt im vorausgestellten Kapitel „tatsachen“ – „facts“. Seine Prognosen von 1968 liegen heute nahe an der Realität, sie haben uns beinahe eingeholt. Der Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) zählt Mitte 2024 insgesamt 8,2 Milliarden Menschen – Mitte der 2080er-Jahre soll ein Höchststand von 10.3 Milliarden erreicht sein. Die Kernfrage für Hallers Utopie ist auch heute noch aktuell: Wie sollen wir diesem Bevölkerungswachstum begegnen, welche Lebensmöglichkeiten und Lebensbedürfnisse brauchen wir dazu? Das Stadtmodell der „totalen stadt“, die Haller entwickelt, ist „das resultat einer arbeit aus lust und neugierte – zum teil noch – aus verzweiflung und hoffnung“. Hallers Utopie ist umfassend, sie setzt Erfindungen voraus und beschreibt eine Idee, die weit davon entfernt ist, auf Realisierung zu hoffen. „niemand wird eine Stadt nach diesem modell bauen, denn es ist von der dazu nötigen reife weit entfernt.“ Science fiction also.

Fritz Haller 4

Die Stadt als System
Gemeinschaftszellen bilden den Kern der systematisch konzipierten Stadtutopie, es sind verschiedener Ordnung, die je nach Einwohnerzahl geclustert sind und verschiedenen Peripherien zugeordnet sind. Großräume für Versorgungs- und Dienstleistungsbetriebe ergänzen den Cluster, der in mehreren übereinander liegenden Ebenen aufgebaut wird. Sogenannte „personen-automatenbahnen“ verbinden die "zentren zweiter und dritter ordnung und die peripherien dritter ordnung untereinander.“ Schon damals dachte Fritz Haller an autonomes Fahren!

„elektronisch gesteuerte elektrofahrzeuge, automaten genannt, mit raum für vier personen, fahren auf einem mehrgeschossigen system von fahrspuren, das so gebaut ist, daß jedes fahrzeug ohne fahrtunterbruch sein ihm durch lochkarten eigegebenes ziel erreichen kann.“

Die Lochkarten von Fritz Haller sind heute Softwarprogramme, die Automatenbahnen zwar noch nicht umgesetzt, aber die ersten Schritte zum autonomen Fahren gibt es längst. Hallers Automatenbahn hat verschiedene Stationen und läuft auf unterschiedlichen Etagen der Stadt, sie kennt Paternoster als Fahrzeugspeicher, „waren- und imbissautomatennischen“. Eigentlich alles, was ein Sience-Fiction Narrativ braucht, um sofort in ein Drebuch umgesetzt zu werden.

IFritz Haller 5

Utopie und Zeichnung
Die Belastung der Verkehrsstränge, Bildungszentren und Produktionsstätten für Bauteile – all das hat Haller bedacht und festgehalten in klaren Texten und akribischen Zeichnungen. Die Zukunft war 1968 zum Greifen nah, und einzelne Elemente und Annahmen von Hallers Systemstadt der Zukunft sind heute Wirklichkeit. Dass wir trotzdem nicht in Hallers Zukunftsstadt leben, dem „endausbau der geplanten 4gliederigen einheit dritter ordnung (e3) für 6 millionen Menschen mit zugehörigem erholungsraum um die bestehenden seen und die zum teil korrigieren flußläufe“, macht mich bei der Lektüre dieses akribischen Entwurfsbuchs beinahe dankbar. Utopie und Distopie – beides liegt nah beieinander. Letztlich ist Hallers Modell der totalen Stadt auch als ein radikaler Entwurf für eine Zukunft, die hoffentlich niemals so Wirklichkeit wird. Denn auch ist das Vermächtnis von Utopien, sie sind allenthalben Warnungen für Entwicklungen, die in der Gegenwart angelegt sind.

Möglichkeiten und Zuversicht
Fritz Haller selbst war offenbar unentschlossen. „– es sind die ins unermeßliche anwachsenden lebensmöglichkeiten und lebensbedürfnisse, die die welt in ein beängstigendes chaos stürzen könnten", schreibt der Architekt in seiner Conclusio.

„was die menschen der kommenden zeit als lebenswert erachten werden, ist noch nicht sichtbar – oder noch nicht erfunden. Vielleicht fehlen zu dieser erfindung noch die nötigen vorstellungen.“

Danke Fritz Haller für diese grandiose systemische Stadtutopie, die mir die Augen immer wieder öffnet – und für einen unumwundenen Fortschrittsglauben , der voller Zuversicht in die Zukunft blickt.

fritz haller, totale stadt, ein modell, integral urban, a model, zweisprachige Ausgabe/bilingual edition, walter-verlag ag, olten, 1968, 172 Seiten/pages, zahlreiche Zeichnungen/many drawings

 

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