Mit ungewöhnlichen Projekten hat die libanesisch-französische Architektin Lina Ghotmeh für Wirbel gesorgt. In ihrem Buch „Windows of Light“, erschienen bei Lars Müller Publishers, geht sie Licht und Dunkelheit auf den Grund.
Stone Garden, Beirut, Libanon, Housing and Mina Art Foundation, © Lina Ghotmeh — Architecture | Photo © Iwan Baan
Von Beirut nach Paris
Zu Recht sind Lina Ghotmeh und das Team ihres Pariser Studio LG – A in den letzten Jahren international bestaunt worden. Das imposante Wohnhochhaus Stone Garden in Beirut, der Heimatstadt der Architektin, blieb durch die schwere Detonation 2020 im Hafenareal nahezu unversehrt und wurde zum Zeichen für den Überlebenswillen der Millionenstadt am Mittelmeer. Für die Produktion von Hermes errichtete LG – A in der Normandie einen klimafreundlichen Gebäudekomplex, dessen gestreckte Arkaden aus roten Backsteinen die Höfe und Werkstatthallen des Luxuskonzerns umspielt. Weitere Wettbewerbe hat das französische Büro kürzlich erst gewonnen – etwa die Modernisierung des MARKK Museums am Rothenbaum in Hamburg oder das Redesign der Western Range Galleries des British Museum. Wir werden in den nächsten Jahren noch viel hören von der heute 44-jährigen Architektin. Ihre Publikation „Windows of Light“ ist bei Lars Müller Publishers erschienen und verrät mehr über ihre Arbeitsweise und ihr Selbstverständnis.
Nebra Sky Disk, 1800-1600 BCE, Photograph by Frank Vincentz, 2022. Wikimedia Commons. CC-BY-SA-4.0.
Forschung, Kunst, Architektur
Wer von diesem Buch eine klassische Architekturmonografie mit Projekten aus dem Portfolio des Büros erwartet, wird enttäuscht sein. Denn Lina Ghotmeh hat anderes im Sinn: Die Architektin stellt in „Windows of Light“ ihre Recherchen vor, die von der Zumtobel Group mit dem Auftrag für den Annual Report 2023/24 des Unternehmens angestoßen wurden. Der reich bebilderte englischsprachige Band ist das Ergebnis einer Forschungsstudie und geht darüber hinaus. In drei Kapiteln zeichnet er die „Archäologie“ des Lichts auf, widmet sich mit einem Fotoessay für das Kapitel „Without Light“ der Dunkelheit und schließt im Kapitel „Material“ mit einem Kunstexperiment. Die Grenzen zwischen Wissenschaft und Geschichte, Mythos und Architektur, Raumgestaltung und Kunst sind aufgehoben – Lina Ghotmeh arbeitet jenseits starrer Einteilungen und mit vielen Interessen.
Unknown, Professor Adolphus Hall of the U.S. Naval Observatory looking through the 26” telescope, 1924, National Museum of the U.S. Navy. Public Domain
Ursprung, Geschichte, Mythologie
Fotos von magnetischen Plasmaströmen auf der Oberfläche der Sonne, Mikroskop-Aufnahmen zur Fotosynthese und Abbildungen von biolumineszenten Organismen und Pilzen eröffnen die Studie – jeweils mit knappen Erklärungen. Die Geschichte des Lichts für die Menschen ist mit ersten Zeugnissen wie Höhlenmalereien und archäologischen Funden wie der Himmelsscheibe von Nebra dokumentiert. Von Platon bis zu den ersten Teleskopen und der Elektrizität ist die Geschichte des Lichts und vor allem das Verständnis dieser Geschichte in Bildern wiedergegeben. Ein Exkurs in die Forschung, der übersichtlich und knapp gehalten ist, trotzdem aber eine Idee davon gibt, was Licht eigentlich bedeutet.
Stone Garden, Beirut, Libanon, Housing and Mina Art Fouindation, © Lina Ghotmeh — Architecture | Photo © Laurian Ghinițoiu
Dunkelheit in der Stadt
Im großen zweiten Kapitel zeichnet der Fotoessay von Laurian Ghinitoiu die Dunkelheit in Beirut während der andauernden Stromausfälle in den Jahren 2020–2022 auf. „Once light is transformed into shadow, our perception changes“, so der Fotograf. Mit seiner Kamera hat Ghintoiu Szenen in der Dunkelheit aufgenommen und beschreibt eine neue Wahrnehmung von Orten, Straßen und Häusern. Schwarz-weiß Fotos mit Ausblicken aus den Fenstern des Stone Gardens in Beirut runden das Kapitel ab. Die Szenen von der Baustelle des Projekts geben eine Ahnung vom Geschützten dunklen Innenraum – und lassen die Fensteröffnungen zu gleißenden Lichtkanälen werden. Eine Serie an Tuschebildern von Lina Ghotmeh schließt das Buch im letzten Kapitel ab – Experimente ,die Licht als Material auf Papier zeigen. Durch die zerfließenden Formen etabliert sich dabei eine eigene unverkennbare Sprache – die der „Flow“s, so der Name der Kunstwerke.
Lina Ghotmeh. „Windows of Light”, edited in collaboration with the Zumtobel Group, Design: Lina Ghotmeh – Architecture, 22,5 x 30 cm, 288 pages, 439 illustrations, hardback, Lars Müller Publishers, Zurich 2024, ISBN 978-3-03778-776-2
Lina Ghotmeh, photo: Kimberly Lloyd