Sie erklären die Welt, sortieren, ordnen und erzählen Geschichten: Diagramme machen den komplexen Alltag übersichtlich, sie konstruieren eine Wahrheit. AMO/OMA stellen die Diagramme in den Fokus ihrer Ausstellung in der der Fondazione Prada in Venedig – und treffen dabei den Nerv der Zeit.
Text: Sandra Hofmeister
The world model, 1972, Printed book, In Donella H. Meadows, Dennis L. Meadows, Jørgen Randers, William Behrens III, The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind (New York: Potomac Associates – Universe Books, 1972), Private collection, courtesy of the authors via System Dynamics Society
Daten und Fakten
Infografiken haben die Aura der Objektivität, schließlich berufen sie sich auf seriöse Fakten. Aber gleichzeitig geben Diagramme und Datenvisualisierungen auch nur vor, die Wirklichkeit zu erklären, und erfinden doch nur ein Narrativ. Sie verbildlichen Daten und Fakten, erklären Zusammenhänge – in Tortenstücken, in Kurven, in bunten Bildern, die ohne Sprachbarrieren verständlich sind. Dabei interpretieren sie und schaffen fiktionale Zusammenhänge. Wenn sich ihr Narrativ unter vielen anderen durchsetzt, dann wird etwas allgemein als „Wahrheit“ anerkannt.
Foto: Marco Capeletti, courtesey Fondazione Prada
Visuelle Erklärungsmodelle
Als Erklärungsmodelle sind Diagramme trotzdem unerlässlich. Die wachsende Zahl an Daten unserer Gegenwart macht ihre Auswertung zum Schlüssel für unser Weltverständnis und das Diagramm zu dessen Königsweg. Die Ausstellung „Diagrams“ von AMO/OMA in der Ca’ Corner della Regina der Fondazione Prada in Venedig wirft einen kritischen Blick auf diese visuellen Erklärungsmodelle und erkundet sie als Phänomen der Geschichte und der Gegenwart, wobei philosophische und kognitive Grenzen offensichtlich werden.
Italian postal savings banks. Number of passbooks. Average passbook and total deposit at the end of each month from 1876 to 1880, 1888, Printed book, In Antonio Gabaglio, Teoria generale di statistica (Milano: Ulrico Hoepli, 1888), Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, Milano, Courtesy Fondazione Giangiacomo Feltrinelli, Milan
Die Faszination der Bilder
„Als ich jung war, war ich fasziniert von Diagrammen“, meint Rem Koolhaas, Gründer des Architekturbüros OMA. „Aus meiner Sicht ist das Diagramm ein permanentes Hilfsmittel”, so der Architekt und Pritzkerpreisträger. Er verweist zudem auf die historische Dimension von Grafiken bis weit zurück in die Geschichte, bis vor Christi Geburt. Für die Ausstellung in Venedig haben Koolhaas und sein Team Infografiken aus verschiedenen Kulturkreisen gesammelt und systematisch in Themenblöcke geordnet. Die Umwelt ist ein Themenblock, in dem auch Grafiken von Katastrophen, Wetterkarten und Heatmaps gezeigt sind. In einem anderen Kapitel der Ausstellung stehen die Gesundheit und der Körper im Zentrum, dort sind unter anderem Anatomiestudien aus der Renaissance, mittelalterliche persische Zeichnungen des Nervensystems sowie Landkarten zur Cholera-Verbreitung in England im 19. Jahrhundert ausgestellt. Weitere Abschnitte der Ausstellung konzentrieren sich auf Krieg und Ressourcen, die Migration und die Wahrheit aus religiöser und astronomischer Sicht. Die ausgestellten Exponate sind auf Papier gedruckt oder genzeichnet, es gibt historische und aktuelle Grafiken, Auswertungen von digitalen Daten, Handschriften mit Rara-Charakter und künstlerisch beeindruckende grafische Darstellungen. Was bei dieser phänomenologischen und systematischen Betrachtung auffällt? Die dargestellten Zusammenhänge sind vergänglich, denn viele Narrative haben heute keine Gültigkeit mehr. Sie gelten heute als Fehler der Geschichte und sind durch neue Erkenntnisse obsolet geworden.
Ed Hawkins, Temperature changes around the world between 1901 and 2018, 2019 , Published by BBC on June 21, 2019. Digital image. From BBC News at bbc.co.uk/news and Prof. Ed Hawkins, National Centre for Atmospheric Science, University of Reading, UK www.ShowYourStripes.info , Courtesy BBC News
Museale Blockbuster
Mit seinem Thinktank AMO hat Rem Koolhaas (OMA) schon mehrfach Themen ins Museum gebracht, die den Nerv der Zeit treffen. „Das Bild Europas“ lautete die vielbesuchte Ausstellung 2004 im Haus der Kunst in München. „Countryside. The Future“ im Guggenheim-Museum in New York (2020) widmete sich den Strukturveränderungen auf dem Land – ein viel zu oft übersehenes Thema im Zeitalter der Megacities. Die neue Ausstellung in Venedig ordnet sich in diesen Reigen an vielversprechenden, heiklen Themen der Gegenwart ein und macht gleichzeitig deutlich, wie vergänglich und leicht angreifbar Diagramme sind, auch wenn sie komplexe Datenbanken auswerten und Fakten interpretieren. Unter den Ausstellungsexponaten sind viele Faksimile aber auch Originale, frühe Buchdrucke und Handzeichnungen aus dem Iran, Le Corbusiers Brise-Soleil-Studien und aktuelle Klimakarten aus dem Alltag des Office for Metropolitan Architecture.
Elwin J. Woodward, Historic and prophetic diagram of the world: God’s plan of salvation for law breakers, 1912, Colored lithograph, exhibition copy, David Rumsey Map Collection, David Rumsey Map Center, Stanford University Libraries, Courtesy David Rumsey Map Collection, David
Rumsey Map Center, Stanford University Libraries
OMA und Prada
2001 eröffnete der Prada Epicenter auf dem Broadway in New York – das erste Projekt von OMA für Miuccia Prada. Seit 2015 ist die Kunstsammlung der Fondazione Prada in Mailand in den historischen Räumen einer ehemaligen Destillerie nach den Plänen von OMA zu Hause. Die Ausstellung in Venedig markiert den vorläufigen Endpunkt dieser langjährigen Zusammenarbeit. „Das Projekt ermutigt zum Dialog und zum spekulativen Nachdenken über die Kommunikation und den Austausch von Wissen und Daten“, so Miuccia Prada. „Die Zielsetzung ist das kritische Bewusstsein um den Wert und die Risiken eines Mediums, das wir heute mehr und mehr zur Kommunikation nutzen.“ Mit Ansätzen von Situ Research, Transsolar und Atmos Lab ist die Ausstellung auch in der Gegenwart gut bestückt – neben all den historischen Bildern und Zeichnungen, die leider nicht alle im Original zu bekommen waren.
Der Katalog von Irma Boom
Wer die Ausstellung in Venedig besucht, sollte viel Zeit für den Rundgang mitbringen, um sich in die einzelnen Abschnitte der Ausstellung vertiefen zu können. Oder gleich auf den Katalog zurückgreifen. Er ist von der holländischen Buchgestalterin, Typografin und Gestalterin Irma Boom designt. Der Band hat 448 Seiten und ist in einem eigens entworfenen Karton verpackt, die Seiten des Buchs sind unbeschnittene Andrucke mit Pantone-Farbskala, seitlich geschlossen. Mit einem eigens mitgelieferten Werkzeug müssen sie von den Leser:innen erst geöffnet werden. Neben den lesenswerten Kurzessays von Kate Crawford, Theo Deutinger, Kohei Sugiura und vielen anderen gibt es auch ein Interview mit Rem Koolhaas und Katya Inozemtseva. Da das Buch kein Inhaltsverzeichnis hat, bleibt die Lektüre ein Herantasten, Blättern, Suchen. Die Texte verstecken sich regelrecht zwischen den Illustrationen, Bildchen, und Diagrammen. Auch das gehört wohl zu den Charakteristika der Gegenwart: In der schieren Quantität der Daten geht manchmal unter, worauf es ankommt. Die wichtigsten Erkenntnisse offenbaren sich nicht von selbst, sie müssen entdeckt werden.
“diagrams. A project by amo/oma”, Mario Mainetti (ed.), catalogue for the exhibition at Fondazione Prada Venezia, until 24.11.2025, book design: Irma Boom with Anna Moschioni, Frederik Pesch, 448 pages, softcover, Fondazione Prada, Milan 2025, ISBN 978-88-87029-94-9
Die Ausstellung diagrams in der Fondazione Prada in Venedig ist bis 24. November 2025 zu sehen.
Foto: Marco Cappelletti, courtesy Fondazione Prada